Winterwanderung am Chiemseeufer entlang, von Chieming nach Stöttham: Claudia Kreier, Pressesprecherin des Chiemgau Tourismus e.V., veranstaltete eine „literarische Wanderung“ und erzählte an verschiedenen Stationen aus dem Leben der Schriftstellerin Isabella Nadolny (1917-2004), die sie kurz vor deren Tod noch interviewt hatte.
Außer uns Wanderern und den Blesshühnern, die sich von den sanften Wellen des winterlichen Chiemsees schaukeln ließen, war keiner unterwegs an diesem kalten Winternachmittag. Der erste Halt: Nadolnys Wohnhaus, ein kleines Holzhäuschen am Chieminger Ortsrand. Die Tochter aus gutem Hause, mit Wurzeln in Fabrikanten- und Künstlerfamilien, erlebte den wirtschaftlichen Niedergang ihrer Familie in den 1930er Jahren. Während des Krieges arbeitete sie als Sekretärin in einem Ministerium in Berlin, wo sie ihren Mann, den Schriftsteller Burkhard Nadolny kennenlernte. Das Häuschen in Chieming, ursprünglich noch winziger als heute, war zunächst nur als Badehaus für den Sommer gedacht. Isabella Nadolny zog schließlich dort ein, das Häuschen wurde erweitert. 1942 kam ihr Sohn Sten zur Welt, heute ebenfalls ein bekannter Schriftsteller, der in Berlin und – wenn er Zeit hat – auch in seinem Elternhaus in Chieming lebt.
Das Geld war oft knapp im Hause Nadolny, auch wenn Isabella bald erste Erfolge mit ihren Romanen hatte. Ihr Brotberuf war aber das Übersetzen – viele Jahrzehnte übertrug sie vor allem Belletristik aus dem Englischen.
Der Baum neben dem Haus interessierte die Wandergruppe natürlich besonders. Es ist ja der Baum, der durch Nadolnys wichtigstes Werk „Ein Baum wächst übers Dach“ unsterblich geworden ist. Noch lebt er und ist vital und groß, und inzwischen ist er nicht nur übers Dach gewachsen, sondern er hält seine starken Äste schützend übers gesamte Haus. Dieses Haus ist der Aufhänger für den Roman, in dem Nadolny ihre Lebens- und Familiengeschichte erzählt. Sachlich, in einer reduzierten, präzisen Sprache schreibt Nadolny. Fast unbeteiligt wirkt sie in manchen Szenen – wohl Ausdruck ihrer Lebenseinstellung: Sie hatte viel mitgemacht, Verluste erlebt, und resignierte dennoch nicht, blieb freundlich, blieb eine Menschenfreundin.
Am Chiemseeufer entlang ging es weiter zum St.-Johannes-Kirchlein außerhalb von Stöttham. Der See grau, der Horizont nur zu ahnen im feuchten Dunst – passend zu unserem Ziel: Auf dem Friedhof des Kirchleins, einsam zwischen Waldrand und weiten Wiesen, liegt Isabella Nadolny begraben. Quasi in Sichtweite zu ihrem geliebten Holzhäuschen. Ein guter Platz, dieser Friedhof – einer der Friedhöfe (und solche gibt es im Chiemgau noch einige), auf denen man sich wohl fühlt.
Ich habe Isabella Nadolny selbst noch erlebt, sie kannte meine Mutter schon, als diese als Kind bei der Chieminger Verwandtschaft zu Besuch war. Eine agile, quirlige, wache Frau bis zuletzt, immer freundlich, lächelnd, liebenswürdig, zum Abschied winkend am Gartenzaun – so habe ich sie in Erinnerung.
Dieser weiß-graue Schneewintertag ließ uns Wanderer ein wenig melancholisch zurück – und nicht nur ich habe mir vorgenommen, die Geschichte mit dem Baum, der übers Dach wächst, gleich noch einmal nachzulesen.